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Biografie Titel

Leben in einem thüringischen Dorf
Kindheit in der Nachkriegszeit


(vorläufige Fassung)

Das Jahr 1947, in dem ich im Mai geboren wurde, war der Beginn des Kalten Krieges, es gab noch keine Bundesrepublik und keine DDR. Die Bomber hatten die Kreisstadt Nordhausen zerstört, aber unser Dorf ist fast unbeschädigt geblieben. Ein paar Tiefflieger hatten auf einen ackernden Bauern geschossen und mein Cousin musste sich vor ihren Maschinengewehrsalven mit einem Sprung hinter eine große Kastanie retten. Aber Wollersleben, das einige verklärend auch das Blauländchen nannten, ist heil geblieben als ich auf dem Bauernhof meines Großvaters zur Welt kam.Der 2. Weltkrieg war zwei Jahre zu Ende, also musste mein Vater spätestens 1946 aus der Kriegsgefangenschaft gekommen sein. Die Heimkehrer sprachen nicht mit ihren Kindern über den Krieg. Er war in den USA und pflückte Baumwolle, nachdem er auf einem Schiffstransport durch einen Granatsplitter am Kopf getroffen wurde und in Gefangenschaft geriet. Diesen Splitter hat er noch heute im Kopf, und dieser Splitter hat ihn jahrelang Schmerzen bereitet, die seine Lebensfreude eintrübten, was wiederum meine Kindheit trübte. Ein Großonkel von mir war auch bei den Amerikanern in Kriegsgefangenschaft. Ihn ging es aber nicht so gut, er wurde auf den Rheinwiesen unter offenem Himmel eingepfercht, hatte Typhus wegen Unterernährung und mangelnder Hygiene und kam mit Asthma nach Hause, einer Krankheit, an der er schon Mitte der Sechziger Jahre starb.In meiner frühen Kindheit kümmerten mich diese Hintergründe meiner Vätergeneration überhaupt nicht, ich lebte spontan in den Tag hinein, riss aus dem Kindergarten aus, um in den Feldern und an der Wipper, unserem Dorffluss, auf dem ich später mit meinen Flößen kenterte, herumzustromern. Ich heulte, als man mich wieder einfing und in den Kindergarten zurück brachte, wo man mich fotografieren wollte. Die Fotos des weinenden Knaben erinnern mich bis heute daran. Hier setzte sich mein Eigensinn fest, der später sogar auf einem Schulzeugnis dokumentiert wurde.Mein Dorf in Thüringen war der ideale Ort für mich. Der Geruch frisch umgepflügter Äcker, des unreifen Getreides, der geernteten Strohballen und der Kuhfladen und Jauchefelder begleitete den Rhythmus meiner frühen Jahre. Ich hatte sogar einen eigenen Baum und einen eigenen Bunker (1x2x1 m Volumen), den ich selbst ausgegraben hatte. Zwar war er nur mit Brettern und Erde bedeckt, nicht so stabil wie der an der Mühle, der aus Beton war, aber man konnte in ihm heimlich rauchen und er stank auch nicht so nach Kacke wie der an der Mühle. Die meisten Dorfbewohner gingen aber bei Fliegerangriffen in eine Unterführung unter den Bahndamm, die etwa fünfzig Meter lang war und in der man stehen konnte, wenn auch in einem Bach. Mein Bunker war mit einem Maschinengewehr ausgerüstet, das aus einem Rundholz bestand, auf dessen einen Ende ich einen Korken genagelt hatte. Das war der Lauf, der aus den Kühlrohr heraus ragte. Später fanden wir Kinder eine echte Maschinenpistole im Spülgraben, leider war sie völlig verrostet. Eine andere Art des Kriegsspielens, um den Weltkrieg II in der kindlichen Fantasie zu verarbeiten, war das ritterliche Fechten. Wir schlugen stundenlang mit Holzknüppeln aufeinander ein, immer nur auf das Schwert des Gegners, sein Körper war tabu, bis uns die Arme erlahmten. Das war aber, als bereits das Fernsehen ins Dorf kam und wir im Westkanal "Ivanhoe" anschauen  konnten. Damals mit 8 Jahren war ich noch strenger Antikommunist. Der Kinofilm, der einmal in der Woche im Gasthof "Biermann" gezeigt wurde, handelte meist von einem sowjetischen Fury, ein Pferd, das Spione und Diversanten an der sowjetischen Grenze zum feindlichen Ausland fing, wenn sie die Grenze durchbrechen wollten. Der schmucke glatt rasierte Rotarmist mit seinem schlauen Pferd "Orleg" und der unrasiert zerlumpte, schielende, verdreckte Spion. Die Fronten der Filmästhetik waren klar. Aber hier bewährte sich mein Eigensinn. Ich zwang mich wider die Identifikationsangebote des Films auf den zerlumpten Spion zu halten und den Rotarmisten mit seiner maßgeschneiderten Uniform zu wünschen, dass er ihn nicht erwische. Das gelang mir vielleicht zehn Minuten, und wenn der feindliche Agent dann gefasst wurde, genoss auch ich das Happy End. Thüringen war zuerst von den Amerikanern besetzt, wie ich aus den Erzählungen meiner Großeltern wusste. Als sie etwa zwei Kilometer vor dem Ort mit ihren Panzern auftauchten, hat sie jemand vom Kirchturm aus beobachtet. Das mussten sie wohl durch ihre Ferngläser gesehen haben, denn sie feuerten eine Granate in den Turm, die aber nur ein kleines Lock machte, weil es ein Blindgänger war. Die Brücke über die Wipper war zum Sprengen vorbereitet, der Volkssturm auch bereit, sie zu zerstören, doch mein Großvater schimpfte mit den letzten Kriegern Hitlers im Dorf, weil er über die Wipper zu seinen Feldern musste. Tatsächlich ist der Volkssturm auch nach Hause gegangen und die Amerikaner sind in das Dorf eingerollt. Aus Dank für die freiwillige Übergabe haben sie dann alle Fotoapparate und Radios eingesammelt , jedenfalls die, die man nicht mehr im Stroh verstecken konnte, um sie auf einen Haufen zu werfen und mit einem Panzer zu zermalmen. Sie wollten verhindern, dass die letzten Krieger als Werwölfe Befehle aus der Alpenfestung empfingen oder ihre Panzerattacke gegen das Dorf fotografierten. Danach zogen befreite KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter durch die Dörfer und plünderten Lebensmittel oder stahlen Fahrräder, die man dann im Nachbardorf wieder einsammeln konnte. Von den Grausamkeiten im Hohenstein, wo die V 2 gebaut wurde, habe ich als Kind aus den Erzählungen der Erwachsenen nichts gehört. Als ich bereits politisch interessiert war, habe ich meine Mutter danach gefragt, aber sie hat nur zugegeben, dass sie abgehärmte Häftlinge in Kolonnen gesehen habe, die vom Lager Dora im Hohenstein nach den Stammlager Buchenwald in der Nähe des Dorfes vorbei getrieben wurden.Nach den Amerikanern kamen im Sommer 1945 die "Russen", also die Sowjetarmee. Wieder wurde geplündert, in unserem Haus haben sie nach wertvollen Geschirr gesucht, das aber längst tief unter dem Stroh in der Scheune lag. Im Weinkeller des Großbauern allerdings gab es zwei Tote. Jemand aus dem Nachbardorf hatte die "Russen" auf den Großbauern, der vor dem "Umschwung" Kreisbauernführer bei den Nazis war, hingewiesen, um sie von seinem eigenen Dorf abzulenken. Der Großbauer soll sie in den Weinkeller geführt haben, um ihnen zu trinken zu geben mit dem Erfolg, das sie ihn und seine Frau im Rausch erschlugen. So wird die Geschichte jedenfalls im Dorf erzählt. Die Tochter des Großbauern war später meine Musiklehrerin. Von ihr habe ich gelernt: zur Bildung eines Menschen gehört es, ein Musikinstrument zu spielen. Das habe ich dann auch beherzigt, zunächst mehr aus Trotz gegen meine Mutter als aus Begeisterung für die Musik. Denn mein Vater war Musiker und verlies meine Mutter und ihren Bauernhof, den sie schon bald von meinem Großvater übernommen hatte, als ich zehn Jahre alt war. Mir aber hat er ein Schifferklavier hinterlassen, mit dem ich zwei Jahre ins Nachbardorf fuhr. Dann aber ergriff mich die Musik durchaus, besonders erinnere ich mich an eine Etüde von Chopin, die mir mein Musiklehrer einmal vorspielte. Ich war gerade in der Pubertät und dieses Stück Musik ergriff meine innigsten Gefühle. Zwar bin ich kein Musiker geworden wie mein Vater, dafür hat dieser Unterricht doch meinen Geschmack gebildet. Und heute höre ich deshalb freiwillig keinen musikalischen Schwachsinn a la Volksmusik und deutsche Schnulze.  Bei Wind und Wetter fuhr ich also, das schwere Instrument auf meinem Fahrrad in den Nachbarort zur Musikschule. Einmal hätte mich dabei fast ein Baum erschlagen. Es war Sturm, ich kämpfte gegen den Wind an mit meinem Schifferklavier als Segelbremse, als es plötzlich hinter mir krachte. Ein großer  Apfelbaum lag quer über der Straße, genau dort, wo ich einige Sekunden vorher mit meinem Fahrrad gewesen war. Später bin ich noch zweimal dem Tod entronnen. Als Kind beim Schwimmen, ich hatte einen Schwimmreifen um meinen Bauch und wagte mich damit ins tiefe Wasser, einige Jungs machten Wettschwimmen, ich wollte nicht nur zuschauen, und als ich schneller wurde, rutschte der Schwimmreifen von mir ab und ich versank... Ich weiß nur noch, dass ich mich schon aufgegeben hatte, Bilder rauschten an meinem Bewusstsein vorbei, ich dachte: das wars - als mich einer meiner Kameraden an den Haaren wieder an die Wasseroberfläche und dann an Land zog. Das war am Mühlgraben, der deshalb so tief war, weil er gestaut wurde. Heute ist er zugeschüttet und die Wipper melioriert, ohne Tiefen. Das zweite Mal blickte ich dem Tod ins Auge, als ich den Lauf einer Maschinenpistole vor mir hatte, die ein tschechoslowakischer Soldat auf mich gerichtet hatte. Aber da war ich bereits erwachsen... Zurück zum Anfang Das alles klingt aufregend, weil nur die aufregenden Ereignisse die Fantasie länger beschäftigen, aber meine Kindheit war eher das gemächliche Dahinleben auf dem Lande, ohne Termine wie heute (von der Schule einmal abgesehen), ohne Medienüberfütterung (wir hatten eine Tageszeitung abonniert) und ohne klimatisierte Räume. Ich schlief in einem unbeheizten Raum. Im Winter bei starken Frost waren in meinem Zimmer Minusgrade, entsprechend dick war das Federbett. Und damit ich erst einmal in das kalte Bett hinein schlüpfte, wärmte meine Großmutter es mit einer Wärmflasche aus Messing an, die schon mehrfach gelötet war und wohl älter als dieser Teil des Hausen, in dem ich schlief. Vielleicht waren diese Verhältnisse auch der Grund dafür, dass ich mit elf Monaten Lungenentzündung bekam und in ein Krankenhaus musste zu einer Zeit, in der es kaum Medikamente gab. Meine Erinnerung, die am weitesten zurückliegt, ist denn auch die an einen Besuch der Krankenstation im Nachbarort Nohra. Ich sehe mich in der  Kinderkarre, wie ich zum Impfen gefahren werde. Trotz der Impfungen habe ich alle Kinderkrankheiten durchgemacht und überlebt. Wenn man das geschafft hat, dann kann man uralt werden wie meine Urgroßmutter. Sie starb Mitte der Fünfziger Jahre mit 96 Jahren. Meine Großeltern sind nur bis in die 80er gekommen, meine Mutter nur bis in die 70er Jahre... Diese Urgroßmutter war die erste Tote, die ich sah. Sie lag schon längere Zeit krank in einem Zimmer des Hauses. Wir waren alle bei den Nachbarn. Als wir in der Nacht nach Hause kamen, gingen meine Großeltern nach oben, wo sie durch das Zimmer der Urgroßmutter mussten. Dann hörten meine Mutter und ich wieder Schritte die Treppe herunterkommen. Meine Mutter ahnte schon etwas, in fatalistischer Ahnung war sie groß, und tatsächlich kam mein Großvater und schilderte uns, dass die Urgroßmutter friedlich eingeschlafen sei. Ob das tatsächlich so war, habe ich mich schon gefragt, denn niemand war bei ihr. Am anderen Tag, als die Sargträger sie heruntertrugen, lief ich aus Angst zum Tor hinaus, spähte aber doch neugierig nach ihr, die noch offen im Sarg lag, durch ein Astloch der Toreinfahrt und wagte mich erst dann zögerlich zu ihren Leichnam heran. Sie lag friedlich da, nur ein bisschen blasser als sonst. Nun schämte ich mich, dass ich ihr einmal auf den Kopf gepinkelt hatte. Je älter ein Mensch auf dem Bauernhof, auf dem jeder mitarbeiten  musste, wird, desto weniger gilt seine Arbeitskraft. Entsprechend geringer ist seine Achtung in der Familie. Diese brutale Hierarchie musste ich wohl als kleines Kind gespürt haben, als ich auf dem Scheunenboden stand und mein Wasser auf ihren Kopf abließ. Als ich viel später Kafkas "Verwandlung" las, fiel mir meine Urgroßmutter wieder ein. Die Beerdigung allerdings war feierlich, nur über das Gestottere des Pfarrers wurde geredet. Er hatte eine Kriegsverletzung und konnte nicht mehr so gut reden, wie man das von seinem Amt erwartete. Später, als nicht nur meine Großeltern, sondern auch meine Mutter tot waren, und ich das Bauernhaus samt Land verkaufte, entdeckte ich im Nachlass meiner Mutter das Testament, mit dem mein Großvater meiner Mutter den Bauernhof überschrieben hatte. Dort war genau festgelegt, wie viel "Scheffel" Getreide, wie viele Teile von Schlachtschweinen usw. meinen Großeltern im Jahr auf ihrem Altenteil zustanden. Ebenso war Pflege bis zum Tod und eine den "Sitten des Dorfes entsprechende Bestattung" festgeschrieben.Von meinem Großvater, der mir den Vater ersetzte und mein Rollenverständnis vom Manne prägte, erfuhr ich, dass die Nazis und die Kommunisten von den Bauern Abgaben verlangten, während er vor diesen Zeiten seine gesamte Ernte frei verkaufen konnte. Allerdings waren wir in vielen Dingen, die man heute kauft, Selbstversorger. Nicht nur Getreide für das Mehl zum Kuchen- und Brotbacken oder Fleisch und Wurst von selbst geschlachteten Schweinen zum Eigenbedarf, sondern mein Großvater war vornehmlich in der Winterzeit zugleich Korbmacher, Sattler, Schmied, Stellmacher und Schuster. Meine Mutter und meine Großmutter nähten mir in der gesamten Nachkriegszeit die Hosen und strickten meine Strümpfe. Die handwerklichen Tätigkeiten meines Großvaters schätzte ich allerdings später nicht mehr so hoch ein, denn ich war ihm schon als Junge in elektrischen Sachen überlegen, vor allem aber, als ich selbst einen Handwerksberuf erlernte und ein gewisses Qualitätsethos vermittelt bekam, sah ich oft in seinen Produkten nur den Fusch. Dass er dadurch viel Geld sparte wurde mir erst später klar. Mit dem so ersparten Geld konnte er sich Maschinen kaufen, vornehmlich in der Zeit der Weimarer Republik, die eigentlich für einen "Kuhbauern" unerschwinglich waren. So hatten wir mit unseren sechs Hektar Land eine Dreschmaschine in die Scheune eingebaut. Die Abgaben nun, die man von ihm erwartete, waren der Grund, warum er weder Nazi noch Kommunist wurde. (Ich nenne hier die SED-Ideologie Kommunismus, obwohl sie nicht mit den Marxschen Ideen übereinstimmte, und die Nazis nicht Faschisten, wie es angebracht wäre, weil dies die damals gängigen Worte waren.) Seine Aversion gegen die Nazis hat ihn dazu veranlasst, 1945 in die KPD einzutreten. Angesichts der Kriegszerstörungen und der Brutalitäten der Nazis und wohl auch wegen der zu erwartenden Bodenreform war das für ihn ein begründeter Schritt. Im Gegensatz zu unserem Schuster, der vor 1945 "den Arm nicht hoch genug bekam" und jeden anmeckerte, der "Guten Abend" anstatt "Heil Hitler" sagte, hatte mein Großvater schon vorher eine innere Distanz zu den Nazis. (Für meine Mutter hingegen war es die "schönste Zeit meines Lebens".) Der Schuster war den Sowjetsoldaten mit einer roten Fahne entgegen gegangen - für mich bis heute ein Musterbeispiel für einen Opportunisten - und hatte die KPD im Ort gegründet. Beide aber, mein Großvater und der Schuster, flogen ein halbes Jahr später wieder aus der Partei heraus: der Schuster, weil er in der NSDAP war, mein Großvater, weil die Quote für die Selbstständigen in der KPD anscheinen zu hoch war, denn sein Nachbar und Freund, ebenfalls ein selbstständiger Bauer, konnte in der Partei bleiben. Mit diesem Schuster habe ich auch meine persönlichen Erfahrungen gehabt. Irgendwie bin ich mit ihm in Streit geraten, er lief hinter mir her, aber ich konnte ihm entkommen, indem ich mich aus einem Fenster des Nachbarn, wo wir bei der Ernte halfen, abseilte. Diese Niederlage hat er mir nie verziehen. Als ich dann kurze Zeit später von meinem Taschengeld im Konsum ein Vorhängeschloss kaufte, um meinen Bunker abschließen zu können, hat er dies gesehen und meine Mutter solange bequatscht, ob dieser unnützen Ausgabe, dass sie mir am Abend eine Ohrfeige gab. Ich empfand das als äußerst ungerecht, zumal sie mir keine Auflagen gemacht hatte, wofür ich das Taschengeld ausgeben solle. Solche Ergötzlichkeiten erlebte ich noch einige, wenn auch nicht vom Schuster, denn der starb bald ebenfalls an einer Kriegsverletzung.In der Landwirtschaft gab es ständig Veränderungen im Dorf. Das Rittergut wurde aufgelöst, Übersiedler bekamen Land und konnten sich eine Bauernstelle einrichten. Mein Großvater hatte sich auch etwas Land erhofft, bekam aber nur einige Hektar Wald, die ihm später wieder weggenommen wurden, weil die Volksarmee einen Truppenübungsplatz benötigte.  Die MTS wurde gegründet, so dass mein Großvater nicht mehr nur mit den Kühen ackern brauchte. Den Bauern wurden Anbaupläne aufgezwungen, die erste LPG wurde gegründet, die allerdings hoch verschuldet war, und immer wenn es irgendwo brannte, wurde zuerst ein junger Großbauern verdächtigt, der dann auch bald nach dem Westen ging. Ende der 50er  Jahre, die Zwangskollektivierung war schon abzusehen, schlossen sich die besten Bauern des Dorfes zu einer LPG Typ II zusammen, d.h. alles Land wurde gemeinsam bearbeitet, teilweise auch das Vieh, vor allem das Milchvieh, aber jeder hatte zu Hause noch ein paar Schweine für den Eigenbedarf und zum Verkaufen, Hühner natürlich sowieso. Meine Mutter heiratete nach ihrer Scheidung von meinem Vater wieder, einen Bauern, der selbst einen Hof hatte. Der Staat machte zur Bedingung dafür, dass er seine Hof aufgeben durfte, den Eintritt in die LPG. Da es im Dorf zwei dieser Genossenschaften gab, schlossen wir uns selbstverständlich der vom Typ II an und nicht der verschuldeten. Das war ein Jahr vor der Zwangskollektivierung und zwei Jahre vor dem Mauerbau 1961. Unsere LPG existierte zehn Jahre, in denen für damalige Verhältnisse viel Geld verdient wurde. Denn sie wurde von einem cleveren Bauern geführt, der z.B. die Maschinen auch im Winter auslastete, indem er sie für Holzfuhren samt Fahrer im Harz einsetzte. Dieser clevere Manager stieg bald in der DDR-Hierarchie auf, heiratete neu eine wesentlich jüngere Frau usw. Meine Mutter und mein Stiefvater kauften sich für ihren Verdienst ein Auto (Marke "Trabant"), das 20 Jahre ihre Beweglichkeit unterstützte. Ich bekam auch etwas ab, nämlich ein Moped und später einen Zuschuss zu einem Motorrad. Das Auto durfte ich allerdings nie fahren. Besonders kann ich mich an den ersten Tag erinnern, nachdem wir in die LPG eingetreten sind. Mein Großvater vermittelte mir das Gefühl: nichts gehört uns mehr, das Land, das Haus, die Toreinfahrt - und das blieb bei mir hängen, selbst das Tor, das ich immer aus dem Wohnzimmerfenster sehen konnte und hinter dem ich meine tote Großmutter zuerst wagte anzusehen, gehörte uns nicht mehr. Wir waren in der LPG, alles gehörte dem Staat. Ganz so war es dann doch nicht. Als genossenschaftliches Eigentum blieb das Land im Grundbuch das Eigentum meiner Mutter und das Haus mit dem Tor gehörte uns sowieso, wir wohnten schließlich mietfrei darin. Später, nach der "Wende", als ich alles verkaufte (deprezidiertes Kapital) für ein Taschengeld, war es mir völlig fremd geworden. Meine Mutter hatte alle Dinge, auf die sie nicht stolz sein konnte, aus Hass gegen die Geschichte weggeschmissen, z.B. ein paar Dreschflegel, ein altes Butterfass, eine Handmangel für die Wäsche, selbst ihre Briefe, die sie von meinem Vater als Mädchen bekommen hatte.Meine letzte positive Erinnerung an meinem Großvater, bevor er an Altersdemenz erkrankte, war ein Spaziergang durch die Felder. Es war sonntags, die Sonne schien und mein Großvater hatte seinen Sonntagsrock an. Wir schlenderten durch die Flur in gemächlichen, aber würdevollen Gang. Ein gesetzter und gediegener Bauer, der aber schon längst auf dem Altenteil saß und mit der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft nichts mehr zu tun hatte. Ein stolzer Bauer ohne Land, der seine Erfahrung an den Enkel weitergeben will, die diesem nichts nützen. Der seinem Bewusstsein nach autochthone Bauer zeigte seinem Enkel die Felder, erklärte die Fruchtfolge, wies auf die früheren Eigentümer der Felder hin oder erzählte Anekdoten aus dem Bauernleben. Hier waren wir mit einer Fuhre Stroh umgekippt, dort standen früher Apfelbäume auf der Trifft. Jetzt sind sie abgeholzt, der Weg mit Büschen beseitigt, um eine größere Fläche für die modernen Landmaschinen zu schaffen. Darüber schimpfte mein Großvater mehr aus Nostalgie denn aus Einsicht in die mögliche  Bodenerosion. Jahre später, ich lebte bereits in Hannover, überflutete ein Unwetter Teile des Dorfes. Das Wasser kam von der Trifft herunter, keine Sträucher und Bäume speicherten das Nass mehr und die Trifft  war so weggewaschen, dass der blanke Felsen zum Vorschein kam. Das war die Folge einer Politik, die allgemeine Erkenntnisse, die teilweise selbst problematisch waren, ohne Rücksicht auf lokale Eigenheiten durchsetzte, weil sie Angst vor der Selbstständigkeit der Leute hatte.Einige Jahre nach der Kollektivierung der Landwirtschaft, als unsere LPG noch selbstständig war und noch nicht die vier Dörfer der Gemeinde zu einer Großkolchose zusammengefasst waren, ereignete sich ein Selbstmord im Dorf, der mich lange beschäftigte. Der Großbauer, dessen Eltern die "Russen" erschlagen hatten, war in die Jauchegrube gesprungen und hatte sich ertränkt. Er war 1945 nicht enteignet worden, weil er unter 100 Hektar Land hatte und mit der Funktion seines ermordeten Vaters nichts zu tun hatte. Vor seinem Selbstmord hatte er noch seine Oberkleider ausgezogen und sie akkurat neben die Jauchengrube gelegt, sozusagen auf Kante, wie er es einst bei der Wehrmacht gelernt hatte. Er war nach seinem Eintritt in die flotte LPG für die Schweinezucht zuständig und verdiente wie die anderen gut. Aber anscheinend konnte er den Verlust seiner Selbstständigkeit und seines Bauernhofes, den er wie mein Großvater als enteignet ansah, nicht verkraften. Er mochte sich wohl auch auf seinem eigenen Hof, dort war die Schweinezucht untergebracht, wie ein Schweineknecht vorkommen. Für ihn war das der totale Abstieg: vom Großbauern zum Knecht. Dass er in seiner Vorstellung sich als "Großknecht" ansehen musste, in der Terminologie der LPG als Brigadier, und dass er in dieser Genossenschaft doch immerhin auch mitbestimmen konnte (später war das nicht mehr möglich), spielte anscheinend für ihn keine Rolle. Was mich aber mindestens genauso innerlich beschäftigte, war die Frage, warum jemand, der in eine Jauchegrube springt, um sich zu töten, seine Kleider ordentlich hinlegt? Bis heute kann ich mir das nur aus einem verselbstständigten formalen Drill erklären, der Zwecke verdrängt, aber die Formen wahrt. Sozusagen Disziplin in der Jauche. Ich habe über diesen Mann ein Gedicht geschrieben und meine jugendliche Meinung literarisch fixiert. Als Technik begeisterter Junge erschien mir eine Produktionsgenossenschaft rationaler als die Kleinbauernwirtschaften.  Eine große Fläche war mit den modernen Maschinen eben effizienter zu beackern als die vielen kleinen Handtücher von Feldern. Die sozialen Folgen wie bei diesem Großbauern sah ich als notwendiges Übel an. Obwohl das Bauernlegen in Westdeutschland diese Ansicht bestätigte, auch der Kapitalismus hat große Flächen erzeugt, hier durch marktwirtschaftliche Enteignung der schwachen Kleinbauern, kann ich mir heute doch humanere Wege für diese Entwicklung vorstellen.

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Letzte Aktualisierung:  27.09.2008

                                                                       
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